Schieflage oder Pro Beinfell



Schieflage 1: RADSPORT


Sport ist gesund!!! Das wird jedenfalls täglich und in allen werbewirksamen Medien verbreitet. Die daraus resultierende Schieflage liegt auf der Hand. Mehr Sport ist noch gesünder. Wahnsinnig viel Sport ist am gesündesten! Geht’s noch??

Mit dieser Weltanschauung endet aber bei den meisten Veröffentlichungen derzeit die Philosophie. Dementsprechend wird von einem Großteil der Menschheit - zumindest in den Industriestaaten - Sport getrieben bis der Arzt kommt oder zu spät kommt.
Die Grundthese ist natürlich korrekt. Bewegung und somit auch Sport ist gesund für das Herz-Kreislaufsystem, die Muskulatur, die Beweglichkeit, die Psychohygiene, den Stoffwechsel und generell für das körperliche und geistige Wohlbefinden. 
Bisweilen wird diese Gesundheitsdoktrin des Sports jedoch schon zur Ideologie und trägt in Extremformen sogar schon sozialdarwinistische Auswüchse. OK, das muss ich, glaube ich, näher erklären.
Nehmen wir zum Beispiel das Radfahren. Moment „das Radfahren“ gibt es ja nicht mehr. Es wird mittlerweile unterschieden in zig Möglichkeiten auf zwei Rädern, meist unter Einsatz der eigenen Muskelkraft unterwegs zu sein. Mountainbiken, Downhill, Freeride, Dirt, Slopestyle, Fourcross, Cross-Country, BMX mit allen Disziplinen, Rennradfahren mit allen Radrenndisziplinen wie Bergzeitfahren, Marathon, RTF, Etappenrennen, Kriterien, Crossrennen, Sandstrandcross, Randonneurrennen, Gravelbiking, Radtouren von der Tagestour bis zur Weltumrundung, E-Bike-Touren, Pedelectour, usw., usw., usw.. Einigen wir uns auf „Biken“ als aktuelles, "Neusprechdeutsch".
Doch zurück zum „Sportdarwinismus“ beim Biken. Die Frage lautet: „Wer gehört dazu und wer nicht?“ Für die Entscheidung dieser Frage seien hier ein paar Standardfragen unter Bikern genannt, die unendlich erweitert werden könnten, wenn man kurz vor einer Ausfahrt, während – deshalb fährt man doch in Zweierreihe - oder danach die Gespräche anhört: Wieviel Kilometer hast du dieses Jahr schon? Schon genug Grundlagen trainiert? Wo fährst du dieses Jahr alles mit? Wieviel wiegt deine Rennsemmel? 29er oder 27,5er oder ein altes 26er? Nobby Nic oder Mountain King? Mit welchem Puls bist du den Berg gefahren? Energy-Gel oder Riegel? Saftschorle oder Sportgetränk? Trainingsplan oder kein Plan? Alkoholfreies Weizen oder mit Umdrehungen? Low-Carb-Training oder Full-Sugar? Ketogene Ernährung oder Nudelparty?
Dies alles sind Fragen die meist von 40 bis 60 jährigen Bikern ernsthaft diskutiert werden, für die weder in ihrer Vergangenheit noch zukünftig eine Radprofikarriere eine Option ist  bzw. war. Biker die darauf keine validen und reliablen Antworten liefern können, drohen im Radlernirvana zu verschwinden oder sind schlicht von den wichtigen Gesprächsthemen ausgeschlossen.
Es wird sowohl beim Material um jedes Gramm gefeilscht als auch bei der Leistungssteigerung des eigenen Körpers jegliche Vernunft über Bord geworfen. Im Hobbysport geht es soweit, dass bei Alpenmarathons von 20 % gedopten Bikern ausgegangen wird. Bei Bergzeitrennen werden daher Bremsen abgebaut, um Gewicht zu sparen. Diverse Nahrungsergänzungsmittel sorgen für alles Mögliche, wie Leistungssteigerung, beschleunigte Regeneration, Säureregulierung, Kreislaufanregung, Mineralienausgleich und vieles mehr. Dies ist noch kein Doping, die Grenze ist jedoch fließend, wenn z.B. Blutverdünner dazu kommen, um der Trombosegefahr vorzubeugen, Asthmasprays und Antihistaminika für Allergiker gezielt eingesetzt werden, Herzmedikamente verschrieben werden, diese jedoch im Leistungssport landen.
Der eigene Ehrgeiz und die eigene Sinnsuche scheint viele Biker kaum noch ihre physiologischen Grenzen erkennen zu lassen. Sich darüber definieren zu müssen, dass die eigene Leistung der Leistung anderer überlegen ist, wird hier zu einem gefährlichen Teufelskreis. Zunehmendes Alter und die gesellschaftliche Jugenddoktrin heizen dieses Dilemma weiter an. Die materiellen und personellen Möglichkeiten können bis zum Extremsten ausgereizt werden und die Sportindustrie liefert die Zutaten frei Haus.
Doping im Profiradsport ist nachvollziehbar, wenn auch nicht hinnehmbar. Es geht dabei jedoch um einen Beruf und wer hat nicht schon eine Kopfschmerztablette oder einen Fiebersenker eingeworfen oder mehrere Tassen Kaffee zu viel getrunken, um seinen Job ausüben zu können. Es geht im Profiradsport um viel Geld und in welchem Job ruiniert man sich seine Gesundheit nicht auch auf lange Sicht gesehen. Ein Maurer zum Beispiel arbeitet bei jedem Wetter draußen, schleppt Steine, macht sich Knie und Rücken kaputt und verdient in vierzig Arbeitsjahren soviel, wie ein Profirennradfahrer in einem Jahr. Der Reiz ist hier einfach zu hoch und die Gefahr zu gering.
Es geht jedoch bei weitem nicht nur um die Leistung, über die man sich definiert. Statussymbole werden von der Radindustrie massenweise angeboten und jährlich werden neue „must haves“ definiert, ausgeworfen und beworben.
Für jeden Einsatzzweck und jede individuelle Interpretation des „Radfahrens“ gibt es mittlerweile speziell zugeschnittene Räder. Der anspruchsvolle Biker besitzt mindestens drei besser vier oder fünf verschiedene Bikes. Grundsätzlich braucht man ein Mountainbike, ein Rennrad und  ein Stadtrad. Poserräder wie Singlespeed, Retrorenner oder Bonanzarad stehen auch hoch im Kurs. Anspruchsvolle besitzen dann noch jeweils ein Fully fürs Training und ein Hardtail für Rennen sowie einen Schön- und einen Schlechtwetterrenner, gegebenenfalls auch noch einen Cross- oder Gravelrenner.
Diese Bikes werden je nach Einsatz noch mit anderen Reifen, Übersetzungen, Laufrädern ausgestattet, so dass man gegenüber der Konkurrenz eindeutig im Vorteil ist. Jeder Biker, der was auf sich hält, ist aus dem Stand heraus in der Lage stundenlang über das unterschiedliche Abrollverhalten von Falt- und Drahtreifen zu philosophieren. Für Diskussionsstoff sorgt auch, ob mit Gummi oder Latexschläuchen gefahren wird oder gar tubeless (also ohne Schlauch) mit Milch (Dichtungsmittel falls doch mal Luft entweicht). 1X11, 2X11 oder gar der veraltete Tripple Antrieb gibt Gesprächsstoff für viele Weizenkaltschalen nach der Ausfahrt.
Ebenso spezialisiert ist der Radler bei der speziellen Kleidung und den anderen Accessoires. Natürlich müssen diese auf die jeweils ausgeübte Disziplin zugeschnitten sein. Baggys – weite kurze Radhosen - sind mittlerweile fast Pflicht beim MTB fahren, während sie auf dem Rennrad ein absolutes NO GO sind, schon wegen der Aerodynamik.
Ein Mountainbikehelm hat ein kleines Sonnenschild, welches bei einem Sturz gerne mal das Gesicht zerschneidet, während dieses bei Rennradhelmen prinzipiell fehlt.
Über Sitzcremes, welche das Hinterteil bei langen Ausfahrten vor Aufscheuern und Druckstellen schützen soll, gibt es bereits seit Jahren gepflegte Internetforen.
Das Cockpit, früher mal profan Lenker genannt, gleicht mittlerweile dem Ausblick eines Piloten eines Airbus 380 in seinem Pilotensessel. Ohne spezielle Ausbildung ist es fast nicht möglich alle Funktionen eines modernen Lenkers zu bedienen. Neben einem Radcomputer, der über diverse Sensoren an Rad und Radler ca. 327 verschiedene Werte misst und diese auf einem drei mal drei Zentimeter großen Display anzeigt - sofern man über die sechs mikroskopisch kleinen Knöpfe die gewünschte Funktion findet und diese dann auch noch ohne Lesebrille lesen kann -  befinden sich noch Hebel für die ferngesteuerte Sattelabsenkung für das Bergabfahren, das Feintuning des Dämpfers und oder der Federgabel, natürlich die Bremshebel für die hydraulischen Scheibenbremsen mit Einstellmöglichkeit des Druckpunktes und die beiden Schalthebel. Bei E-Bikes kommen noch Gashebel und Batterieanzeige des Elektroantriebs hinzu.
Krönung der Schöpfung auf dem Fahrradlenker ist momentan natürlich ein Navigationsgerät mit neuester Routingtechnologie, so dass selbst beim Abbiegen in einen kleinen Waldweg einem eine nette Stimme ins Ohr flüstert: „nach 30 m biegen Sie links ab“. Wenn nun jedoch ein fleißiger Waldarbeiter genau nach 30 Metern einen neuen Holzstapel aufgetürmt hat, kann die technische Freude am grenzenlosen Navigieren schnell ein Ende finden.
Bei all diesen technischen Wunderwerken bleibt leider kein Platz für so unwichtige Dinge wie eine Klingel. Diese wird schon wegen der unerhörten Gewichtserhöhung von 15 Gramm nicht in Betracht gezogen. Deshalb sind die hightech Scheibenbremsen auch grundsätzlich und absichtlich so eingestellt, dass sie bei jeder Radumdrehung ein metallisches „Pling“ von sich geben und bei Betätigen des Bremshebels lauter aufheulen als ein ICE bei einer Notbremsung. Dies wird jedoch nur notwendig, wenn der Biker nicht schon durch das traktorenähnliche Geräusch der Stollenreifen von zwei Kilometern Entfernung gehört wurde. Im Wald hört man zunächst ein dumpfes Wummern, was zu einem surrenden Dröhnen anschwillt. Unweigerlich wird man an Kevin Costners „Der mit dem Wolf tanzt“ erinnert, als die Büffelherde stampfend vorbeidonnert. Eine Gruppe Mountainbiker brettert einen Trail talwärts. Nach zehn Sekunden ist das „Naturschauspiel“ vorbei und Ruhe kehrt wieder ein im Wald. Lediglich der Duft von adrenalindurchsetztem Schweiß hängt noch für eine Weile in der Luft.
Es gab Zeiten, da hatten Fahrräder einen Dynamo welcher die vorhandene Fahrradbeleuchtung bei Bedarf mit Strom versorgte. Heute brennen Fahrradscheinwerfer Löcher in die Dunkelheit, welche von der ISS aus gesehen schon mit einem Meteoritenschweif verwechselt wurden. Mindestens für die Beleuchtung eines mittelgroßen Fußballstadions würden diese Funzeln ausreichen. Allerdings müssten die Spieler dann Sonnenfinsternisbrillen tragen um nicht mit einer Netzhautablösung vom Platz geführt zu werden. Weshalb manche Nachtfahrer zwei Lampen verwenden bleibt ungeklärt. Behauptet wird, dass eine für den aktuellen Weg und eine für die Voraussicht benötigt wird. Wahrscheinlicher ist, dass eine Lampe zum Blenden des Gegenverkehrs eingesetzt wird, während die andere dann benötigt wird, um dem vom Weg abgekommenen Gegenverkehr ausweichen zu können.
Rennradler haben rasierte Beine, dies verschafft ihnen einen aerodynamischen Vorteil von wahnwitzigen 0,6 % gegenüber Beinfellträgern. Es passiert, dass man mit Beinfell mitleidig beäugt, provokativ zur Beinrasur aufgefordert oder als MTB-Spion enttarnt wird, wenn man dennoch in einer Rennradgruppe mitfahren möchte. Die geschorenen Beine haben eindeutige Vorteile, außer der Tatsache dass man "ernsthafte" Biker von Hobbybikern unterscheiden kann. Zum Beispiel entzünden sich Schürfwunden nach Stürzen angeblich nicht so schnell, wenn die Beine rasiert waren. Allerdings ist von den Haaren nach einem Sturz mit 40 km/h oder schneller und der dazugehörigen Schlitterpartie über den rohen Asphalt in der Regel auch keines mehr vorhanden. Auch beim Masseurbesuch nach dem Training – wo ja jeder Radler nach jedem Training hingeht?! - ist das babypoglatte Bein angenehmer, für den Masseur. Zu 95 % hat die Beinglatze jedoch lediglich Eitelkeit als Antrieb, da die durchtrainierten Muskeln auf glatter Haut, womöglich noch mit Sonnenöl glänzend poliert, viel besser zur Geltung kommen. Leider werden durch die Beinrasur nicht nur die Muskeln sondern auch die ausgeprägten und nicht besonders ästhetisch aussehenden Krampfadern in schärferem Kontrast abgebildet, so dass die wülstigen Zickzackvenen in Gartenschlauchdicke jedem Phlebologen als Kalkulationsgrundlage seiner nächsten Arztrechnung dienen können.
Welche Methode für die Glatzenbildung eingesetzt wird, ist ebenfalls ein heiß diskutiertes Thema, welches auch regelmäßig in Radsportzeitschriften erläutert wird. Es fanden sich sogar schon Tests der unterschiedlichen Haarentfernungsmethoden. Dieses Thema treibt mir regelmäßig ein schadenfreudiges Lächeln ins Gesicht, wenn ich mir bei einer Ausfahrt vorstelle, wie der vorausfahrende Radler sich die Beinhaare bis zum Hintern im Kosmetikstudio mit Wachs entfernen lassen hat - Autsch. Oder ein anderer auf die chemische Keule zur Enthaarung allergisch reagiert hat und seine Beine ähnlich einem pubertären Pickelgesicht mit roten Pusteln übersäht sind. Spätestens bei der Vorstellung wie sich diese Beinfellakne auf dem harten Rennradsattel anfühlt wird es unappetitlich.
Einige Auswüchse wurden bislang außer acht gelassen. Die Schieflage liese sich jedoch in einige Bereiche noch ausweiten. Zum Beispiel wurde die Kosten / Nutzen Rechnung noch nicht aufgemacht. Auch die Neiddebatte auf alles, jeden und überhaupt habe ich nicht erwähnt. Das "Sehen und Gesehen" werden mit all seinen "sozialnetzwerklichen" Auswüchsen blieb unerwähnt. Überhaupt die mittlerweile betriebenen online Challenges wären einer eigenen Schieflage würdig. Nun denn für diesmal sollte es reichen.
Gerne erhalte ich Feedback auf diesen Post als kommentiert oder sagt es mir direkt bei der nächsten Ausfahrt.

---- to be continued ----

1 Kommentar:

  1. Hi Andreas, sehr schön und Lustig beschrieben. Zuweilen Hart aber ehrlich auf den Punkt gebracht. Ich hatte auch beim zweiten mal sehr viel Spass beim lesen und musste mich das ein oder andere mal an die eigene Nase fassen. Danke und weiter so Gruß Raimond

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Danke für deinen Kommentar!!